The respectable Austrian Der Falter published a review on Alisa Ganieva’s Offended Sensibilities in the German translation by Johannes Eigner. “Droht der Thrill der Erzählung angesichts eingeschobener Reflexionen und Beschreibungen verloren zu gehen, folgt eine Sexszene. Alissa Ganijew zieht dabei alle Register der diesbezüglich reichen russische Sprache und tut das mit der Dezenz einer Erzählung für Erwachsene (so wird Porno in Russland umschrieben). Der Sarkasmus, mit dem „Verletzte Gefühle“ einem Land beikommt, in dem die Realität ständig alle Fiktion überbietet, macht „Verletzte Gefühle“ aber immerhin zu etwas wie Dostojewskij en miniature – eine höchst beachtliche Leistung”.





Rezension aus FALTER 11/2021

Die Dreifaltigkeit von Sex, Crime & Money

Ein Mann torkelt über die Straße, hält ein Auto an, kurzer Wortwechsel mit dem Fahrer, der Unbekannte steigt ein und stirbt am Rücksitz. Der Tote ist Andrej Iwanowitsch Ljamzin, Regionalminister für wirtschaftliche Entwicklung in einer namenlosen russischen Provinzstadt. Der Fahrer Nikolaj, Einkaufsleiter in der Baufirma von Marina Anatoljewna Semjonowa, der Geliebten des Ministers, weiß nicht so recht, wie ihm geschieht, und legt den ominösen Fahrgast am Stadtrand ab. Was hier eigentlich vor sich geht, erfährt man erst ganz am Ende dieses flott erzählten Porträts des heutigen Russland. Nikolaj selbst stirbt hingegen schon am Ende des zweiten Kapitels. Dass es sich um einen einfachen Verkehrsunfall mit schwerem Lastwagen handelt, darf bezweifelt werden.

Satiriker von Gogol bis Bulgakow, die Russlands immerwährende Korruption aufs Korn nahmen, mögen Alissa Ganijewa Pate gestanden haben. Vor den schwindelerregenden Einsichten der Klassiker in die Abgründe der russischen Seele macht sie aber Halt; sie schreibt einen Gesellschaftsroman als Krimi.

Die aus Dagestan stammende 35-jährige Autorin, die seit ihrem Studium am Gorki-Institut in Moskau lebt und sich bislang in zwei Romanen am Machismo Jugendlicher in der islamischen Vorkaukasusrepublik abgearbeitet hat, unternimmt mit „Verletzte Gefühle“ den Versuch, ganz Putin-Russland einen Spiegel vorzuhalten.

Die Hauptstadt liegt in weiter Ferne, in der namenlosen Provinzstadt ist alles überschaubarer, rabiater und komischer: Korruption und Polizeigewalt, vor allem aber die heilige Dreifaltigkeit des Homo Postsovieticus: Sex, Crime & Money. Selbst das Wetter ist hier anlassig: „Der Regen wurde heftiger, es prasselte hernieder und klatschte unverfroren auf das Wagenäußere, wie eine Männerhand auf einen Frauenschenkel. Die Scheibenwischer flogen tachykardisch rasend hin und her.“

Herzrasend überdreht sind überhaupt alle bis hin zu einer Nebenfigur wie der auftretende invalide Kriegsheimkehrer aus dem Donbass, der zur Begrüßung alle als Faschisten beschimpft. Das halbe Dutzend Protagonisten ist ähnlich verpeilt, hat aber andere Problem. So etwa die Bauunternehmerin Marina, die vom Regionalminister vergewaltigt und später dessen Geliebten und Geschäftspartnerin wird. Die Stellung des auf ominöse Weise zu Tode Gekommenen hat sich mittlerweile Staatsanwalt Kapustin erarbeitet, der sich seine Beschützerdienste durch ein Aktienpaket entlohnen lässt.

Auf sozial etwas tieferer Ebene wiederholt sich das Spiel von Niedertracht und Heuchelei bei der Sekretärin Lena und dem Kriminalpolizisten Viktor – jeder verdächtigt jeden, etwas mit dem Tod des Ministers zu tun zu haben. Zu Ehren kommen weiters der lokale Aufdeckungsjournalist (der später zusammengeschlagen wird), ein Porträtist der Spitzen dieser Gesellschaft sowie ein sich besonders patriotisch gebärdender Theatermacher. Hieß es bei Tschechow noch „Nach Moskau! Nach Moskau“, lautet der Slogan jetzt kriegslüstern: „Nach Kiew!“

Putin-Russland bedeutet in der Provinz vor allem Denunziation. Denunziert wird hier jeder, also auch die verwitwete Ministergattin und Schuldirektorin; nicht nur, weil sie die Gehälter des nicht vorhandenen Lehrpersonal in die eigene Tasche abzweigt, sondern auch, weil einer ihrer Geschichtslehrer die Gefühle der Neo-Patrioten verletzt, indem er Stalin mit Hitler vergleicht.

Droht der Thrill der Erzählung angesichts eingeschobener Reflexionen und Beschreibungen verloren zu gehen, folgt eine Sexszene. Alissa Ganijew zieht dabei alle Register der diesbezüglich reichen russische Sprache und tut das mit der Dezenz einer Erzählung für Erwachsene (so wird Porno in Russland umschrieben). Der Sarkasmus, mit dem „Verletzte Gefühle“ einem Land beikommt, in dem die Realität ständig alle Fiktion überbietet, macht „Verletzte Gefühle“ aber immerhin zu etwas wie Dostojewskij en miniature – eine höchst beachtliche Leistung.



Erich Klein in FALTER 11/2021 vom 19.03.2021 (S. 21)